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Verhärtete Positionen auflösen

Nadja Wersinski • Juni 14, 2021

"Jenseits von Richtig und Falsch liegt ein Ort. Dort treffen wir uns." Rumi

Konstruktivismus


Die eine sagt „verändern“, der andere sagt „lassen wie es ist“, der eine sagt „links entlang“, die andere „rechts abbiegen“. Das kennen wir alle: „Ja“ und „nein“ stehen sich als Gegensätze gegenüber und irgendwie geht es nicht weiter. Wie können wir solche Positionen auflösen? Wie die festgelegten Haltungen verlassen und Perspektiven erweitern? Gibt es diesen Ort jenseits von richtig und falsch und wie kommen wir dorthin? 



Der Konflikt als „tragischer Ausdruck eines unerfüllten Bedürfnisses“


Wenn unterschiedliche Sichtweisen aufeinander prallen und es nur noch darum geht, wer Recht hat, stecken oft unterschiedlichen Interessen und Bedürfnissen dahinter. Autonomie bei den Mitarbeiter*innen, die selbstbestimmt ihre Projekte umsetzen möchten, Kontrolle beim Vorgesetzten, der sein Team mit strikten Zielvorgaben steuert. Geselligkeit bei den Menschen, die spätabends ihr Stadtteilfest feiern, Ruhe bei den Anwohnerinnen und Anwohnern, die schlafen möchten und sich beschweren. Und die eine Seite fühlt sich meist von der anderen nicht gesehen in dem, was sie braucht.


Was folgt sind negative Gefühle wie Ärger oder Trauer. Menschen entwickeln sehr unterschiedliche Strategien, um diese verschwinden zu lassen und ihre Bedürfnisse zu erfüllen. So entstehen Konflikte, die Marshall B. Rosenberg, der Erfinder der Gewaltfreien Kommunikation, als „tragischer Ausdruck eines unerfüllten Bedürfnisses“ beschrieben hat.


Schwierig wird das Zusammenleben und -arbeiten dann, wenn die Positionen sich immer stärker verfestigen. Wenn es den Beteiligten gar nicht mehr möglich ist, eine andere Sichtweise nachzuvollziehen. Hier einige Tipps, wie wir mit Konflikten in Gruppen umgehen können.



Es gibt kein richtig und kein falsch


Was wäre, wenn die einzelnen Positionen gar nicht wichtig sind? Wenn es um den Raum darüber hinaus geht, gemäß dem Satz des persischen Mystikers Rumi „Jenseits von richtig und falsch liegt ein Raum. Dort treffen wir uns.“


Der Konstruktivismus erklärt, warum es richtig und falsch eigentlich gar nicht gibt. Die Kernidee: Was wir für wirklich halten, ist lediglich unser subjektiv zusammengebasteltes Bild. Unsere Sinnesorgane nehmen die Welt nur in Ausschnitten wahr - der erste Filter. Unser Gehirn filtert nochmal, ergänzt die Wahrnehmung selbstständig und interpretiert sie. Das vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen, also ganz individuell, und aktueller Stimmungen und Emotionen. Das kennen wir alle: bei Sonnenschein sieht die Welt ganz anders aus und das Wetter beeinflusst ja sogar den Ausgang von Wahlen.


Jeder Input wird also in das eigene Raster, die eigene Geschichte so einsortiert, dass sich eine logische Struktur ergibt. So machen wir uns die Welt, wie sie uns gefällt. Und diese Weltsicht bestimmt unser Verhalten. Oft vergessen wir allerdings, dass sie höchst subjektiv ist und wir nicht davon ausgehen können, dass jemand anderes die Welt genauso wahrnimmt wie wir. Vor diesem Hintergrund basteln wir uns Erklärungen, warum andere sich so verhalten, wie sie sich verhalten. Aber auch das ist nur unsere Interpretation und nicht die Realität.


Da für die eine richtig ist, was für den nächsten falsch ist, können viele Wirklichkeiten nebeneinander existieren. 




Was Menschen brauchen


Auch wenn unsere Realität subjektiv ist, unsere psychischen Bedürfnissen sind identisch, in ihnen sind wir miteinander verbunden. Und wir alle machen nichts anderes, als innerhalb unserer Interpretation der Wirklichkeit passende Strategien zu entwickeln, um unsere Bedürfnisse zu erfüllen.


Professor Klaus Grawe formuliert vier Grundbedürfnisse.


  1.    Kontrolle und Selbstbestimmung

Jede*r von uns möchte über sein Leben und sein Umfeld selbst entscheiden und Einfluss darauf nehmen. Niemand mag es, irgendeiner Tatsache einfach ausgeliefert zu sein. Deshalb hilft es, sich und anderen den Gestaltungsspielraum, den es auch im Rahmen des Erzwungenen gibt, aufzuzeigen. 


2.      Lust

Wir alle möchten gerne Freude haben, Dinge gerne tun, positive Emotionen haben. Viele Termine und Aufgaben können so gestaltet werden, dass sie Spaß machen.


3.      Selbstwert

In einer Gruppe ist es wichtig, dass jede*r seinen und ihren Platz hat. Dass niemand abgewertet wird, weil sie eine andere Meinung hat als der Rest. Niemand das Gefühl hat, von gestern zu sein und nicht gebraucht zu werden.


4.      Nähe und Zugehörigkeit

Jede*r hat das Bedürfnis, mit anderen Menschen in Verbindung zu sein. Dazu zu gehören, zum Team, zur Nachbarschaft, zur Gruppe, ganz egal, wie man sich verhält.


Erst wenn die unerfüllten Bedürfnisse angesehen und geklärt werden, kann der gemeinsame Lösungsfokus auf das Gemeinsame gelegt werden – sei es das Gemeinwohl oder das Team.


Voraussetzung hierfür ist es, die Bedürfnisse anderer wahrzunehmen und anzuerkennen. Sie auszusprechen, zum Beispiel „Sie würden gerne selbst bestimmen, was in ihrer Nachbarschaft passiert“ oder „Sie möchten nicht dafür ausgelacht werden, dass Sie Angst vor der Veränderung haben“, verändert sofort die Stimmung in einer Gruppe. Unterschiedliche Bedürfnisse dürfen dann nebeneinander stehen bleiben. Es ist okay, dass es sie gibt.
 
 

Friede, Freude, Eierkuchen?


Die Aufhebung der objektiven Pole „richtig“ und „falsch“, die gemeinsame Bedürfnisse aller Menschen - beides sollte nicht dazu führen, Positionen und unterschiedliche Meinungen zu verschleiern.  Es geht nicht darum, das Ringen um die passende Lösung, den Streit um richtig oder falsch, vom Tisch zu wischen. Denn beides ist erforderlich für das Zusammenleben einer Gesellschaft, die Zusammenarbeit einer Gruppe.


Statt „Friede, Freude, Eierkuchen“ geht es vielmehr darum, unterschiedliche Positionen in all ihrer Komplexität zu benennen, uns zuzumuten und sie auszuhalten. Weil sie gar kein Problem sind, sondern in Ordnung, ganz normal. Nichts, was aufgelöst werden kann und muss. Alle Menschen haben die gleichen Bedürfnisse und jede Weltsicht, jede Definition von „richtig“ und „falsch“, ist subjektiv.

Diese unterschiedlichen Sichtweisen auszusprechen und anzuerkennen führt oft zu Aha-Effekten. Und plötzlich stellt man fest: Die anderen haben nicht dieselbe Filterbrille auf der Nase wie ich.


Wenn eine Gruppe das erkennt und diese unterschiedlichen Perspektiven zu nutzen lernt, sind das fast magische Momente. Wenn wir diese Buntheit anerkennen, stellen wir nicht mehr die von unseren abweichenden Bedürfnisse der anderen in Frage, sondern lediglich ihre Strategien, um sie zu erfüllen.


Dann können alle gemeinsam überlegen, welche Strategien nicht auf Kosten der anderen gehen. Wie sie den Kuchen vergrößern und die Chancen beider Seiten berücksichtigen können. Wenn Unterschiede sichtbar werden, ist plötzlich auch Raum da, über Gemeinsamkeiten zu reden. Denn neben unterschiedlichen Interessen gibt es oft unerwartete gemeinsame Anliegen oder Werte. Dieses Verbindende kann nun an die Oberfläche kommen und der Raum jenseits von richtig und falsch betreten werden.

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